In Großbothen befindet sich das leerstehende Sommerhaus (und gleichzeitig der Sterbeort) des berühmten deutschen Psychologen Wilhelm Wundt (1832-1920).
Bekannt ist, dass Wundt an der Universität Leipzig seine historisch höchst bedeutsame Wirkung entfaltet hat und deshalb als die vielleicht größte Gründerpersönlichkeit der Psychologie gilt. Weniger bekannt ist, dass er in Leipzig nicht nur das weltweit erste Laboratorium für Experimentalpsychologie einrichtete, sondern auch der Initiator für die Entstehung einer kulturgeschichtlich orientierten Entwicklungspsychologie war, für die er die – heute nicht mehr gebräuchliche – Bezeichnung Völkerpsychologie einführte.
Die Häuser, in denen Wundt in Leipzig wohnte, wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Erhalten blieb sein letztes Domizil, das in Großbothen bei Leipzig, Grimmaer Straße 28 liegt. In Großbothen, wenige hundert Meter entfernt, lebte auch der Chemie-Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853-1932), mit dem Wundt eng befreundet war (heute Gedenkstätte Ostwald-Park).
Wundts Sommerhaus ist „wohl proportioniert im italienischen Stil“ um 1903/04 nach Plänen des Maurermeisters Fleming errichtet worden (vgl. Fotos). Es hat eine Wohnfläche von etwa 120 Quadratmetern auf zwei Etagen und steht auf einem etwa 880 Quadratmeter großen Grundstück. Im Jahr 1915/1916 gehörte es Wundts Tochter Eleonore. Ursprünglich wollte Wundt im Jahre 1903 noch seinen Alterssitz in Mannheim einrichten und in Großbothen nur ein Sommerdomizil unterhalten. Im Jahr 1919 hat er es dann aber gekauft und verbrachte ab Juli 1920 bis zu seinem Tod den Sommer in Großbothen. Hier diktierte er am 24. August 1920 das Vorwort zu seinem Hauptband „Erlebtes und Erkanntes“. Im Herbst wollte er ursprünglich nach Leipzig zurückkehren, verstarb dann aber am 31. August 1920. Ende 1920 wurde das Haus an einen Wilhelm Guhlemann veräußert. Wundt Tochter verfügte nur über ein sehr geringes Einkommen und habe „sehr bescheiden“ leben müssen. Sie arbeitete von 1927 bis 1943 im Psychologischen Institut Leipzig und war mit Grete Ostwald, der Tochter des ebenfalls in Großbothen lebenden Chemikers und Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald befreundet. Im Jahr 1995 fand in Großbothen ein Treffen statt, an dem auch Angehörige der Familie Wundt und Vertreter der Leipziger Universität teilnahmen.
Das Haus befindet sich seit 2018 im Besitz einer dem Förderverein nahestehenden Denkmalpflegerin. Das Haus steht zwar unter Denkmalschutz, ist aber seit längerer Zeit unbewohnt und der vorherige Besitzer war an einer Erhaltung des Hauses nicht interessiert und lies es verfallen. Die jetzige Besitzerin lässt das Haus sanieren. Für die hohen, laufenden Sanierungskosten sind 2018 bereits erste Fördermittel des Bundes und Spenden der Deutschen Stiftung für Denkmalschutz eingegangen.
Sobald das Haus instandgesetzt ist, ließen sich Nutzungen in Betracht ziehen, die eng mit dem Namen Wundt verbunden sind. Es gibt zwar bereits den „Wilhelm-Wundt-Raum (Sammlung des Psychologischen Instituts Leipzig)“ und das Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie in Würzburg, doch es wäre sehr wünschenswert, wenn gleichsam parallel zu dem in Leipzig bereits bestehenden, eher biologisch ausgerichteten „Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie“ ein Institut für eine kulturgeschichtlich orientierte Psychologie eingerichtet werden könnte. Hierfür würde ein dringender Bedarf bestehen und das Haus in Großbothen vielleicht als Standort infrage kommen.
Wilhelm Wundt war der erste, der im Jahre 1883 das Wort „Historische Psychologie“ prägte, und bis zu seinem Tod die Anwendung der „historisch-psychologischen Methode“ für eine entscheidend wichtige Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung hielt. Der ‚Altmeister‘ hatte schon früh begriffen, dass nicht die kurze akademische Disziplin- und Institutionsgeschichte der Psychologie, sondern die vergleichsweise unvorstellbar lange Gegenstandsgeschichte des Psychischen (so u.a. der soziokulturell überformten inhaltlichen Wahrnehmungen, Kognitionen, Gefühle und Bedürfnisse) eine interessante Thematik darstellt und gerade deren Bearbeitung eine wichtige Forschungsaufgabe repräsentiert. Bereits im Jahre 1908 formulierte Wundt die folgenden Sätze: „Die Aufgaben der wissenschaftlichen Psychologie sind in den mannigfaltigen Gestaltungen des Seelenlebens selbst gegeben, nicht in den zufälligen Interessen, die gelegentlich im Kreis der Psychologen vorherrschen. Und vielleicht bedarf es keiner besonderen Sehergabe, um vorauszusagen, daß in nicht allzu ferner Zeit die experimentellen Gebiete der Psychologie gegenüber den völkerpsychologischen Problemen verhältnismäßig in den Hintergrund treten werden.“
Vor dem neuen Gebäude der Psychologie in Chongqing, d.h. in der Southwest University in China, steht eine lebensgroße Skulptur Wundts, geschaffen von dem chinesischen Meister He Lei. Das ist ein Beispiel für die aktuelle Weltgeltung Wundts, dessen Anerkennung bereits zu seinen Lebzeiten ein hohes Niveau erreichte. Wundt war auswärtiges oder korrespondierendes Mitglied von 13 Akademien sowie Ehrenmitglied in 12 wissenschaftlichen Gesellschaften des In- und Auslands. 1912 wurde er zum Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste gewählt. Die Asteroiden (635) „Vundtia“ und (11040) „Wundt“ erhielten seinen Namen.
Diese Ehrungen stehen in einem gewissen Widerspruch zu dem Schicksal des Hauses in Großbothen bei Leipzig, in dem Wundt zuletzt gelebt und gearbeitet hat. Seine Freundschaft zu dem 20 Jahre jüngeren Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (Ostwald sah in Wundt seinen Mentor) war der Grund für die Wahl des Standorts und den Kauf des Gebäudes Grimmaer Straße 28. Während der DDR-Zeit, als das Haus im Besitz der Öffentlichen Hand war, wurde zur Würdigung Wundts eine Inschrift angebracht.
Wilhelm Wundt ist zwar nicht so berühmt geworden wie Sigmund Freud, hat aber für die Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie eine ungleich größere Bedeutung als dieser und genießt dafür in Fachkreisen weltweite Anerkennung. Sein Frühwerk bezieht sich auf die Physiologische Psychologie und den experimentellen Ansatz. Wundt gründete 1879 das erste psychologische Forschungslaboratorium der Welt, das sehr schnell internationale Bedeutung gewann und als Beginn der akademischen Disziplin Psychologie angesehen wird. In seinem Spätwerk widmete sich Wundt dem Aufbau einer geisteswissenschaftlich fundierten Psychologie, die jedoch lange Zeit unbeachtet blieb, erst in den letzten Jahren (als Wundts „anderes Erbe“) wiederentdeckt wurde und eine wichtige Weiterentwicklung erfährt.
Da Wundt sowohl für die naturwissenschaftliche als auch für die geisteswissenschaftliche Psychologie eintrat, birgt sein Werk ein großes Integrationspotenzial. Sein „Grundriss der Psychologie“ enthält Aussagen, die in dieser Perspektive möglicherweise erst in Zukunft Aktualität erlangen. Durchaus naheliegend ist in diesem Kontext der Gedanke, Wundts Wohnhaus in Großbothen in Verbindung mit dem dort bereits seit vielen Jahren bestehenden Wilhelm Ostwald-Park (Gedenk- und Tagungsstätte) zum Bestandteil z. B. eines Instituts und Museums für Geschichte der Psychologie werden zu lassen.
Weiterführende Links
- Überlegungen zur Gründung einer Wilhelm-Wundt-Stiftung in Großbothen
- Historisches Foto vom Haus in Großbothen
- Wilhelm Wundt in seinem Haus in Großbothen
- Fotos von 1993 (Deutsche Fotothek)
Panorama
Anlässlich des Tags des Offenen Denkmals ist ab September 2020 die virtuelle Begehung des Wundthauses mit 360-Grad-Panoramen möglich.
Fotos: Wolfgang Chodan
Spendenkonto
Medizinische Hochschule Brandenburg Spendenkonto
Sparkasse Ostprignitz-Ruppin
IBAN: DE44 1605 0202 1001 0390 80
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Bitte geben Sie als Überweisungszweck das Stichwort “Wilhelm Wundt Haus“ an.
Mehr zu Wilhelm Wundt
Wilhelm Wundt (* 16. August 1832 in Mannheim; † 31. August 1920 in Großbothen) war ein deutscher Physiologe und Psychologe. Er gründete 1879 das erste Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig und gilt als Begründer der Psychologie. Seine weltweite Anerkennung bestand bereits zu seinen Lebzeiten. An seinem Leipziger Institut studierten Männer aus vielen Ländern und begründeten anschließend in ihrer Heimat eine eigenständige akademische Psychologie.
Seit den 1880er Jahren war Leipzig eine weltberühmte Adresse für die neue Psychologie. Wundt betätigt sich auch politisch und war Mitbegründer des Vereins deutscher Arbeitervereine, einem Vorläufer der späteren sozialdemokratischen Arbeiterpartei, wiederum einer Gründungsvereinigung der späteren SPD.
In Leipzig gehörten zum Umfeld u.a. die Physiologen Carl Ludwig und Johann Nepomuk Czermak, der Anatom und Physiologe Ernst Heinrich Weber, der Universalgelehrte Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und der Mediziner Rudolph Hermann Lotze (1817–1881). Mit einigen stand Wundt im fachlichen Austausch, mit anderen war er befreundet, wie z.B. mit dem Historiker Lamprecht, dem Geograph Ratzel und dem Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, der ebenfalls in Großbothen lebte. Ostwald sah Wundt als seinen Mentor an.
Die Wahl Wundts zum Rektor im Amtsjahr 1889/1890 und als Redner der 500-Jahr-Feier der Universität spricht dafür, dass er weithin hohes Ansehen genoss. Zwischen 1875 und 1919 hat Wundt für 184 Doktoranden betreut, über 60 stammten aus dem Ausland. Schwerpunkte der Untersuchungen waren philosophische und psychologische Themen, die „Psychophysik“ und Reaktionszeitmessungen.
Wichtige Daten
- 1875 wechselte Wilhelm Wundt auf eine ordentliche Professur für Philosophie an die Universität Leipzig
- 1879 Gründung des „Instituts“ für experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig, zunächst als Privateinrichtung
- 1883 Zuweisung und Umbau von 6 Räumen sowie ein jährlicher Etat. Offizielle Anerkennung des „Instituts für experimentelle Psychologie“ der Leipziger Universität
- 1889–1890 Rektor der Universität Leipzig
- 1913 Gründung der Völkerpsychologischen Abteilung des Instituts
- 1917 Rücktritt vom Lehramt (im Alter von 85 Jahren)
Auszeichnungen
- 1876 Verleihung des Dr. phil. h.c. der Universität Leipzig
- 1887 Verleihung des Dr. jur. h.c. der Universität Göttingen
- 1888 Ernennung zum Königlich Sächsischen Geheimen Hofrat
- 1902 Ehrenbürger der Stadt Leipzig
- 1907 Ehrenbürger der Stadt Mannheim
- 1912 Ernennung zum Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste
- Ehrenmitglied in 12 wissenschaftlichen Gesellschaften im Inland und Ausland
- auswärtiges bzw. korrespondierendes Mitglied von 13 Akademien im Inland und Ausland
- Namensgeber für die Asteroiden (635) Vundtia und (11040) Wundt.
Werk
Wundt hat in seinem Forschungsprogramm eine umfassende Wissenschaftskonzeption der Psychologie ausgearbeitet, die sich von der Psychophysik der Sinnesempfindungen, Aufmerksamkeitund Bewusstsein, Psychophysiologie der Emotionen, und einer umfangreichen Neuropsychologie bis zur Sprachpsychologie, Religionspsychologie und anderen Themen der Kulturpsychologie (Völkerpsychologie) erstreckte. Seine empirische Psychologie und Methodenlehre sind eng verknüpft mit seiner Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie der Psychologie. Mit seiner später ausgearbeiteten Ethik und seinem metaphysischen Voluntarismus entstand ein einheitlich konzipiertes System.
Die letzte große, in den Jahren zwischen1900 und 1920 entstandene Veröffentlichung Wundts war die zehnbändige „Völkerpsychologie“ (heute gleichbedeutend mit Kulturpsychologie, nicht mit Völkerkunde).
Das Werkverzeichnis des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte hat mit allen Aufsätzen und allen deutschen und fremdsprachigen Auflagen seiner Bücher 578 Einträge im Zeitraum 1853 bis 1950 (vgl. Eleonore Wundt, 1927; Robinson, 2001). Der amerikanische Psychologe Edwin Boring zählte 494 Publikationen Wundts (ohne reine Nachdrucke, aber mit revidierten Auflagen), die im Mittel 110 Seiten lang sind und insgesamt 53.735 Seiten umfassen. Wundt publizierte in 68 Jahren durchschnittlich sieben Arbeiten im Jahr, schrieb oder revidierte durchschnittlich 2.2 Seiten am Tag und war damit vermutlich der produktivste Wissenschaftler aller Zeiten, produktiver noch als der 24 Jahre jüngere Sigmund Freud (als Begründer der Psychoanalyse, nicht der Psychologie). Die Bedeutung Wundts für die Psychologie lässt ich durchaus vergleichen mit derjenigen Freuds für die Psychoanalyse.